Klimawandel in ISO 9001/45001 (A1:2024): Auditfeste Umsetzung für Chemie, Pharma und Ex-Bereiche am Niederrhein
Mit Amendment 1:2024 haben ISO 9001:2015 und ISO 45001:2018 den Klimawandel ausdrücklich in die Anforderungen der Kapitel 4.1 (Kontext der Organisation) und 4.2 (Erwartungen interessierter Parteien) aufgenommen. Damit wird für Qualitäts- und Arbeits-/Gesundheitsschutz-Managementsysteme verbindlich, dass klimabezogene Einflussfaktoren und Stakeholder-Erwartungen systematisch geprüft werden – unabhängig davon, ob ein Unternehmen bereits Klimaziele verfolgt.
Wesentliche Punkte:
- In 4.1 ist zu ermitteln, ob und wie der Klimawandel relevante externe Rahmenbedingungen verändert (z. B. Extremwetter, Temperaturspitzen, regulatorische Entwicklungen, Versorgungsrisiken).
- In 4.2 ist zu ermitteln, welche Erwartungen interessierter Parteien (u. a. Mitarbeitende, Auftraggeber, Behörden, Versicherer, Anwohner, Lieferanten) zum Thema Klimawandel bestehen.
- Laut IAF/ISO-Communiqué vom Februar 2024 gibt es keine Übergangsfrist. Zertifizierer prüfen die Ergänzung im regulären Auditzyklus.
Für Betreiber an der Niederrheinschiene – von Chemparks über Raffinerien bis zur Pharmaindustrie und Ex-Bereichen – ist das mehr als eine redaktionelle Fußnote. Die Region ist besonders von Starkregen, Stürmen, Hitzeperioden und zeitweiligem Niedrigwasser auf dem Rhein betroffen, was sich direkt auf Betriebssicherheit, Anlagenverfügbarkeit, Lieferketten und die Zusammenarbeit mit Dienstleistern auswirkt.
Kurz gesagt: Die Norm fordert kein „Klimaprogramm“, aber sie verlangt, dass Sie Klimawandel-Faktoren bewusst betrachten, ihre Relevanz begründen und – wo nötig – in Prozesse und Nachweise überführen. Genau dort entsteht der praktische Handlungsbedarf in bestehenden QMS- und AMS-Strukturen.
Auswirkungen auf QMS und AMS: Wo Sie jetzt nachschärfen sollten
Die Ergänzungen betreffen keine „neuen“ Prozesse, sondern das, was Sie ohnehin tun – nur mit erweitertem Blick. Erleichternd: Vieles lässt sich mit überschaubarem Aufwand in vorhandene Methoden integrieren.
1) Kontextanalyse (4.1) aktualisieren
- Ergänzen Sie Klimarisiken und -chancen in Ihrer PESTLE- oder SWOT-Betrachtung: Extremwetter (Starkregen, Sturm, Blitzdichte), Hitzewellen/Temperaturspitzen, Frostereignisse, längere Trockenperioden, Energie- und Wasserverfügbarkeit, Regulierung und Versicherungsauflagen.
- Regionalbezug herstellen: Niederrhein-spezifische Daten (z. B. Hochwasser-/Überflutungsflächen, Starkregengefahrenkarten, Gewittertage) sind für Standorte zwischen Bonn und Krefeld besonders aussagekräftig.
- Ergebnis bewerten: dokumentieren, welche Aspekte wesentlich sind und welche nicht (mit kurzer Begründung).
2) Stakeholderanalyse (4.2) erweitern
- Erwartungen erfassen: Auftraggeber (inkl. DAX-Unternehmen) erwarten zunehmend Nachweise zu Resilienz, Business Continuity, Notfall- und Instandhaltungskonzepten unter Klimastress.
- Behörden/Versicherer: verlangen teils spezifische Schutz- oder Prüfkonzepte (z. B. Blitzschutz, Objektschutz gegen Überflutung, Gefahrstoffsicherheit bei Extremwetter).
- Mitarbeitende und Fremdfirmen: Anforderungen an Hitzeschutz, Hydration, Schatten-/Kühlzonen, Arbeitszeitmodelle bei Hitze, Unterweisungen zu Wetterwarnungen.
3) Verknüpfung mit QMS-/AMS-Bausteinen herstellen
- Risiken/Chancen (6.1, 9001): Überführen Sie relevante Klimaaspekte in Ihr Risiko- und Maßnahmenregister (z. B. Lieferketten, Anlagenverfügbarkeit, Qualitätsrisiken durch Temperaturdrift).
- Gefährdungsbeurteilungen (45001) inkl. Ex-Schutzdokument: Berücksichtigen Sie Hitze, Sturm, Überschwemmung, Blitzschlag und deren Einfluss auf Zündquellen, Temperaturklassen, Lüftung, Korrosion/Feuchte, Notfallzugänglichkeit.
- Notfallplanung (z. B. 8.2 in 45001): Szenarien wie Starkregen mit Wassereintritt in Kabeltrassen, längere Stromausfälle, Hitzewellen (medizinische Notfälle), Zugänglichkeitsprobleme.
- Präventive Instandhaltung: klimaresiliente Intervalle/Umfänge (z. B. Sichtprüfungen nach Sturm, Thermografie in Hitzeperioden, Funktionsprüfungen Blitz-/Überspannungsschutz nach Gewitterereignissen).
- Lieferketten- und Obsoleszenzmanagement: Alternativlieferanten, Bevorratung kritischer Komponenten (z. B. Schaltgeräte, SPS-Module), Logistikrouten bei Rhein-Niedrigwasser.
Wichtig: Die Norm verlangt keine zusätzlichen Formalismen um ihrer selbst willen. Integrieren Sie die Ergänzungen pragmatisch in das, was vorhanden ist (Kontext-Template, Stakeholderliste, Risiko-/Maßnahmenregister, Managementbewertung).
Praxisbeispiele für Chemie-, Pharma- und Ex-Bereiche: Elektro, Blitzschutz, DGUV V3 und EMSR unter Klimastress
Elektrische Installationen und EMSR-Anlagen
- Temperaturspitzen: Schaltschränke und Feldgeräte müssen für höhere Umgebungstemperaturen ausgelegt sein (erweiterte Ta-Bereiche, Derating von Leistungsschaltgeräten, dimensionierte Belüftung/Klimatisierung, Sonnenschutz). Bei Ex-Geräten ist die Einhaltung der Temperaturklasse unter erhöhter Umgebung zu verifizieren; ggf. Auswahl von Geräten mit erweitertem Temperaturbereich und Anpassung des Ex-Schutzdokuments.
- Feuchte/Kondensation: Bei Starkregen/Schwüle Kondensatbildung in Gehäusen – Abhilfe durch passende IP-Schutzarten, Hygroskop-/Entfeuchtungselemente, druckausgleichende Membranen und angepasste Kabelverschraubungen.
- Korrosion: Überarbeitung der Material- und Beschichtungsauswahl in Außenanlagen, Anpassung von Wartungsintervallen (z. B. schnellere Schutzlackalterung bei Hitze/UV).
- Stromausfall/Netzqualität: Planung von USV/Netzersatzanlagen für kritische Steuerungen, Spannungsüberwachung, Brownout-Erkennung, robuste Wiederanlaufstrategien für Prozessleittechnik.
Blitz- und Überspannungsschutz
- Zunahme lokaler Gewitter: Überprüfen/aktualisieren des Blitzschutz-Risikomanagements nach anerkannten Regeln der Technik. In Chemie- und Ex-Bereichen besonderes Augenmerk auf Potenzialausgleich, Funkenstrecken und Erdung in Zonen mit entzündlichen Gasen/Stäuben.
- Überspannungsschutzkonzepte: Koordination SPD Typ 1/2/3, regelmäßige Sicht- und Messprüfungen, Ereignis-bezogene Prüfungen nach Gewitterfronten, Dokumentation in der Instandhaltungsplanung. Für Anlagen mit hohen Verfügbarkeitsanforderungen Monitoring-Lösungen für Ableiterzustand erwägen.
- Blitz als Zündquelle: In Ex-Zonen kann direkter oder naher Einschlag leitungsgebundene oder induktive Kopplungen verstärken; Leitungsführung, Schirmung und Trennabstände prüfen; ggf. nachrüsten.
DGUV V3-Prüfkonzepte
- Risiko- und zustandsorientierte Intervalle: Nach Extremereignissen (Hochwasser, Sturm, Hitze) anlassbezogene Prüfungen ergänzen. Thermografie bei Hitzeperioden, Isolationsmessungen nach Feuchtereignissen, Funktionsprüfung von RCDs/AFDDs in definierten Abständen.
- Prüfpunkt-Ergänzungen: Sichtprüfung auf Wassereintritt, UV-Schäden an Kabelmänteln, gelockerte Verbindungen nach Vibration/Orkan. Für Außenverteiler/Plug-in-Systeme zusätzliche Dichtigkeitschecks.
- Dokumentation: Verknüpfen Sie Prüfpläne mit Wetterereignis-Logs (z. B. interne Meldungen, amtliche Warnungen). So entsteht für das Audit ein nachvollziehbarer Trigger-Mechanismus.
Ex-Schutzdokument und Gefährdungsbeurteilung
- Klimawirkungen auf Zoneneinteilung: Längere Hitzeperioden können Verdunstungsraten erhöhen; geänderte Lüftungssituationen durch Temperaturgradienten; bei Starkregen/Überflutung können Medien austreten oder Zone-0/1-Lagen temporär vergrößert werden. Zonenkonzept und Ventilationsannahmen stichprobenartig gegenprüfen.
- Oberflächentemperaturen/Zündquellen: Höhere Umgebungstemperaturen erhöhen Bauteiloberflächentemperaturen. Überprüfen Sie T-Klassen-Margen, ggf. reduzieren Sie Lasten oder implementieren Sie zusätzliche Kühlung/Abschirmungen.
- Notfallzugang: Sicherstellen, dass bei Wasser-/Sturmschäden Ex-relevante Bereiche zugänglich sind und freigeschaltet werden können (Absperrkonzepte, redundante Freischaltpunkte, mobile Pumpen).
Lieferketten und Qualität
- Niedrigwasser auf dem Rhein: Planen Sie Sicherheitsbestände und alternative Transportwege für kritische EMSR- und Schaltgerätekomponenten. Qualifizieren Sie Zweitlieferanten und aktualisieren Sie Freigabe-/Wareneingangsprüfungen, wenn Ersatztypen genutzt werden.
- Temperatur-empfindliche Materialien: Für Pharmazulieferungen (Sensorik, Reagenzien, Dichtungen) Transport-/Lagerbedingungen und Wareneingangskriterien anpassen (Temperaturlogger, Temperatur-Excursion-Management).
Schaltschrankbau im DACH-Raum
- Konstruktion: Dimensionierung für erweiterte Umgebungstemperaturen, Deratingkurven dokumentieren, Luft-/Kabelkanalführung optimieren, Farb- und Oberflächenwahl gegen Aufheizung (z. B. helle Gehäuse), geeignete Klimatisierung/Filterlüfter mit Schutz gegen Feinstaub/Feuchte.
- Komponentenwahl: Geräte mit erweitertem Ta-Bereich und geeigneten Zertifizierungen; in Ex-Nähe Abarbeitung der Zündschutzarten und Temperaturklassen; EMV- und Überspannungsschutz als integraler Bestandteil.
- Nachweisführung: Stücklisten, Datenblätter, Berechnungen (Leistungsverlust, Temperatur), FAT-/Funktionstests unter erhöhter Ta sowie Ereignis-bezogene Inspektionspläne für den Betrieb.
Was Auditoren jetzt prüfen – und welche Nachweise Sie vorbereiten sollten
Zertifizierer werden im Rahmen des regulären Audits typischerweise folgende Punkte ansprechen:
- Wie wurde Klimawandel in 4.1 (Kontext) betrachtet? Welche Aspekte sind für Ihren Standort/Ihre Prozesse wesentlich bzw. nicht wesentlich – und wie wurde das begründet?
- Wie wurde Klimawandel in 4.2 (interessierte Parteien) adressiert? Welche Erwartungen sind identifiziert (z. B. Vorgaben der Auftraggeber, Behörden, Versicherer) und wie fließen sie ein?
- Welche Konsequenzen gibt es für bestehende Prozesse (Risiken/Chancen, Ziele, Notfallplanung, Instandhaltung, Beschaffung/Design)? Gibt es konkrete Maßnahmen und Verantwortlichkeiten?
- Welche dokumentierten Informationen belegen dies? Hinweis: Die Norm verlangt keine neue Dokumentform – aber nachvollziehbare, gepflegte Nachweise.
Pragmatische Nachweise für Betreiber
- Aktualisierte Kontext- und Stakeholderanalyse mit Klimabezug (kurz, prägnant, datengestützt).
- Verknüpfung in Risiko-/Maßnahmenregistern inkl. Bewertung (Eintrittswahrscheinlichkeit/Auswirkung) und Umsetzungsstatus.
- Aktualisierte Gefährdungsbeurteilungen (inkl. Ex-Schutzdokument) mit explizitem Bezug zu Temperatur, Feuchte, Sturm, Blitz, Überflutung.
- Notfall- und Business-Continuity-Dokumente mit Szenarien für Starkregen/Hitze/Netzausfall; Protokolle von Übungen/Wirksamkeitsprüfungen.
- Instandhaltungskonzepte und DGUV V3-Prüfpläne mit Ereignis-Triggern und angepassten Intervallen; Protokolle nach Extremwetterereignissen.
- Lieferketten- und Obsoleszenzstrategie inkl. Zweitquellen, Sicherheitsbestände, qualitätsseitige Freigaben für Alternativkomponenten.
- Managementbewertung mit kurzer Passage zum Status der Klima-relevanten Themen und Entscheidungen/ressourcenseitigen Weichenstellungen.
Nachweise für Dienstleister und Schaltschrankbauer
- Methodik zur Berücksichtigung klimatischer Einflussgrößen in Planung, Montage und Prüfung (Checklisten, Auswahlkriterien, Deratingregeln).
- Projektdokumentation mit Klimabezug: Komponentenauswahl (Datenblätter, Ta-Bereiche), Berechnungen (Verlustleistung, Temperatur), Nachweis der SPD-Koordination, EMV-/Klimakonzepte.
- Ereignisbezogene Prüf-/Inspektionsverfahren nach Gewitter/Hitze/Starkregen; Qualifikations-/Unterweisungsnachweise des Personals.
- Kommunikations- und Schnittstellenkonzept zum Betreiber (z. B. Übergabedokumente, Wartungsempfehlungen, Notfallkontakte).
Worauf Auditoren erfahrungsgemäß nicht bestehen:
- Keine Pflicht zu CO2-Bilanzierung oder Klimazielen im Rahmen von 4.1/4.2.
- Kein separates „Klimahandbuch“, wenn die Inhalte plausibel in bestehenden Dokumenten integriert sind.
- Kein 1:1-Transfer in sämtliche Prozesse, wenn die Relevanz fachlich begründet nicht gegeben ist. Entscheidend ist Nachvollziehbarkeit.
Umsetzung an der Niederrheinschiene: Schlankes Vorgehen mit hohem Nutzen
Schritt 1 – Sichtung (2–3 Wochen)
- Bestehende Kontext-/Stakeholderanalyse öffnen, Klimapunkte ergänzen, Relevanz bewerten.
- Standort- und anlagenspezifische Daten beschaffen (Starkregengefahrenkarte, Blitzdichte, Hochwasserhistorie, Temperaturtrends).
- Erste Lückenliste für QMS-/AMS-Prozesse erstellen (Risiken/Chancen, Gefährdungsbeurteilungen, Notfall-/Instandhaltung).
Schritt 2 – Integration (4–8 Wochen)
- Risiken/Chancen, Maßnahmen und Verantwortlichkeiten festlegen; Prüffristen/Trigger in Instandhaltung und DGUV V3 anpassen.
- Ex-Schutzdokument und Sicherheitsbetrachtungen punktuell aktualisieren (Temperaturklassen, Lüftung, Blitz-/Überspannungsschutz).
- Für kritische Anlagen (EMSR, Schaltschränke, Außenverteiler) technische Maßnahmen priorisieren: Ta-Erweiterung, SPD-Nachrüstung, Klimatisierung, Dichtungskonzepte.
- Lieferketten-Resilienz verbessern (Zweitquellen, Sicherheitsbestände, Ersatztyp-Freigaben).
Schritt 3 – Wirksamkeit und Auditfähigkeit (laufend)
- Kurzschulung/Unterweisung zum neuen Normbezug für Führungskräfte und operative Teams.
- Ereignisprotokolle führen (Wetterwarnungen, Schäden, ad-hoc-Maßnahmen) und mit Maßnahmenumsetzung verknüpfen.
- Managementbewertung um einen kompakten Klimapunkt erweitern; KPIs pragmatisch wählen (z. B. ungeplante Stillstände durch Wetter, Prüf- und Wartungs-Backlog nach Ereignissen).
Dieses Vorgehen schafft Mehrwert jenseits der Normenkonformität: weniger Ausfälle, schnellere Wiederanläufe, bessere Versicherbarkeit – und belastbare Nachweise im Audit.
Quellen und Normhinweise
- ISO 9001:2015/Amd 1:2024 – Abschnitt 4.1 (Kontext der Organisation), 4.2 (Erwartungen interessierter Parteien)
- ISO 45001:2018/Amd 1:2024 – Abschnitt 4.1, 4.2
- IAF/ISO Communiqué „Climate change in management system standards“, Februar 2024 (Hinweis: Prüfung im regulären Audit, ohne Übergangsfrist)
- DIN EN ISO 9001:2015-11 (mit A1:2024)
- DIN ISO 45001:2018-06 (mit A1:2024)
Hinweis zur Praxis: Die Normänderung verlangt das bewusste „In-Bezug-Setzen“ des Klimawandels auf Ihren Kontext und Ihre Stakeholder. Für Betreiber zwischen Bonn und Krefeld und für Dienstleister im Schaltschrankbau im gesamten DACH-Raum bedeutet das vor allem: Bestehende, bewährte QMS-/AMS-Bausteine mit einem klaren Klima-Layer zu ergänzen – fokussiert, evidenzbasiert und auditfest.