Zwei Wege, ein Ziel: Elektroingenieur und Elektromeister für auditfeste Elektrotechnik in Industrie- und Ex-Anlagen

Wenn Sie Industrieanlagen betreiben oder ausbauen, begegnen Ihnen zwei zentrale Qualifikationen: der Elektroingenieur (Bachelor) und der Elektromeister. Die öffentliche Diskussion dreht sich oft darum, wer „mehr“ kann. In der Praxis geht es jedoch darum, wer wofür qualifiziert ist – und wie beide zusammen Sicherheit, Compliance und Verfügbarkeit gewährleisten.

  • Elektroingenieur (Bachelor):

    • Schwerpunkt: Systementwurf, Berechnung und Nachweisführung. Er oder sie dimensioniert Netze und Schutzkonzepte, rechnet Kurzschlussströme, Selektivität und Spannungsfall, legt Erwärmung und Querschnitte aus und wählt geeignete Schutz- und Automatisierungslösungen.

    • Normenkompetenz: Sicherer Umgang mit DIN VDE 0100 (Errichten von Niederspannungsanlagen) und DIN VDE 0105-100 (Betrieb), DIN EN 61439 (Niederspannungs-Schaltgerätekombinationen), DIN EN 62305 (Blitz- und Überspannungsschutz) und – je nach Einsatz – ATEX/IECEx-Anforderungen gemäß DIN EN 60079-14/-17.

    • Dokumentation: Erstellung von Stromlaufplänen, Selektivitäts- und Kurzschlussberechnungen, Risikobewertungen (z. B. Blitzschutzklasse), Stücklisten, Funktionsbeschreibungen und Nachweisen für Audits und Behörden.

  • Elektromeister:

    • Schwerpunkt: Ausführungskompetenz, Bauleitung vor Ort, Inbetriebnahme. Der Meister verantwortet die fachgerechte Montage, Verdrahtung, Messung und Koordination von Montageteams und Nachunternehmern – oft unter laufendem Betrieb in anspruchsvollen Umgebungen.

    • Regelauslegung in der Praxis: Kennt Normanforderungen und übersetzt sie in sichere, effiziente Montage und Prüfprozesse, strukturiert Arbeitspakete, prüft Machbarkeit vor Ort und steuert Material- und Terminfluss.

    • Führung und Qualität: Unterweist Elektrofachkräfte, führt Prüfungen durch (oder organisiert befähigte Personen) und sorgt für lückenlose Dokumentation und Abnahmen.

Beide Qualifikationen überschneiden sich in der Normenkenntnis, setzen aber unterschiedliche Schwerpunkte: Der Ingenieur begründet und dimensioniert, der Meister baut, prüft und übergibt – beides auf professionellem Niveau und in gegenseitiger Abstimmung.

Rechtliche und normative Rahmenbedingungen in Industrieumgebungen

Industrieanlagen, Chemie- und Pharmawerke, Raffinerien sowie explosionsgefährdete Bereiche unterliegen strengen Vorgaben. Entscheidend ist nicht die Titel-Frage, sondern die nachweisbare Erfüllung von Pflichten aus Gesetzen, Normen und Betreiberregelwerken.

  • DIN VDE 0100 (Errichten) und 0105-100 (Betrieb):

    • Legen Anforderungen an Planung, Errichtung, Instandhaltung und sichere Arbeitsverfahren fest. Gerade in Bestandsanlagen ist die Schnittstelle zwischen Betriebsverantwortung (z. B. Freischaltung, fünf Sicherheitsregeln) und Projektumsetzung kritisch.

  • DIN EN 61439 (Schaltanlagenbau):

    • Regelt die Design- und Stückprüfung von Schaltgerätekombinationen. Nachweise zur Erwärmung (Temperaturanstieg) und Kurzschlussfestigkeit sind zwingend – entweder durch Prüfung, Berechnung oder Regeln der Bauart.

  • DIN EN 62305 (Blitz- und Überspannungsschutz):

    • Umfasst Risikoanalyse, äußeren Blitzschutz (Fangeinrichtungen, Ableitungen, Erdungsanlage) und inneren Schutz (Potenzialausgleich, Überspannungsschutz-Schutzzonen und SPDs).

  • DGUV Vorschrift 3 (ehem. BGV A3):

    • Verpflichtet Betreiber zu Erst- und Wiederholungsprüfungen elektrischer Anlagen und Betriebsmittel. Messverfahren, Fristenmanagement und Dokumentation sind nachweisrelevant – insbesondere bei Audits und Behördenprüfungen.

  • TRBS 1203 (Befähigte Personen):

    • Definiert Qualifikationsanforderungen an Personen, die Prüfungen im Sinne der BetrSichV durchführen. In der Praxis wird sichergestellt, dass Prüfende fachlich qualifiziert und hersteller-/anlagenspezifisch eingewiesen sind.

  • DIN EN 60079-14/-17 (Explosionsschutz):

    • 60079-14 regelt Auswahl und Errichtung elektrischer Betriebsmittel in Ex-Bereichen (z. B. Zonen, EPL, Temperaturklassen, Schutzarten).

    • 60079-17 regelt Inspektion und Instandhaltung, inkl. Inspektionsarten (visuell, nah, detailliert) und Dokumentationspflichten.

    • Diese Rahmenbedingungen gelten in Deutschland/EU. Betreiberregelwerke (z. B. Chempark-Standards, Raffinerievorschriften) können zusätzliche Anforderungen stellen, etwa Freigabeprozesse, Permit-to-Work, Werkstoff- und Kennzeichnungsstandards oder erweiterte Nachweisdokumente.

Rollenverteilung im Projekt: von der Idee zur abgenommenen Anlage

Erfolgreiche Industrieprojekte trennen Verantwortlichkeiten klar – und verzahnen sie gleichzeitig.

  • Aufgaben des Elektroingenieurs:

    • Anforderungsaufnahme, Risikoanalyse, Netz- und Schutzkonzept inkl. Selektivität und Kurzschlussberechnung.

    • Auslegung von Schaltanlagen nach DIN EN 61439, Kabelwege, Querschnitte, Schutzarten/IP, EMV, Erdung und Potentialausgleich.

    • Explosionsschutz-konforme Auswahl von Betriebsmitteln (DIN EN 60079-14) und Definition der Inspektionsstrategie (60079-17).

    • Erstellung von Planungsunterlagen (Stromlauf-, Klemmen-, Kabel- und Feldgerätepäne, I/O-Listen), technischen Spezifikationen und Prüf-/Abnahmekriterien.

    • Nachweisführung und Dokumentation für Betreiber und Behörden (z. B. 62305-Risikorechnung, Designverifikation 61439).

  • Aufgaben des Elektromeisters:

    • Baustellenorganisation und Bauleitung, Koordination der Montagekolonnen, Schnittstelle zu anderen Gewerken (Rohrbau, Stahlbau, EMSR).

    • Fachgerechte Montage, Verdrahtung, Kennzeichnung, Inbetriebnahmevorbereitung und -durchführung.

    • Durchführung oder Organisation von Messungen/Prüfungen (z. B. DGUV 3), Sichtung und Zusammenführung der Nachweise, Pflege der As-built-Dokumentation.

    • Team- und Arbeitssicherheit: Einweisung, Gefährdungsbeurteilungen, Freigaben, Permit-Management, Tagessicherheitsunterweisungen.

  • Verantwortliche Elektrofachkraft (VEFK) und Betreiberrolle:

    • In vielen Organisationen bündelt die VEFK nach DIN VDE 0105-100 die Fachverantwortung, legt Regeln fest und bestellt befähigte Personen (TRBS 1203).

    • Abnahmen erfolgen stufenweise: Werkabnahme, Montageabnahme, Inbetriebnahmeabnahme, Betreiberabnahme – jede mit klaren Prüfpunkten, Messprotokollen und Sign-off.

In anspruchsvollen Umgebungen – etwa Chemparks an der Niederrheinschiene oder in Raffinerien – ist diese Rollenverteilung gelebter Alltag. Sie sichert Termin- und Qualitätstreue, auch wenn parallel Betrieb, Turnaround oder Behördenauflagen zu managen sind.

Praxisbeispiele: wo sich Ingenieur- und Meisterkompetenz ergänzen

  • Schaltschrankbau nach DIN EN 61439

    • Ingenieur:

      • Dimensioniert Sammelschienen, Geräteanordnung und Verlustleistung; führt oder veranlasst Designnachweise zur Erwärmung und Kurzschlussfestigkeit.

      • Definiert Schutz- und Selektivitätskonzept, EMV-Maßnahmen, Schutzarten/IP, Klimatisierung und Verdrahtungsrichtlinien.

      • Erstellt Stromlaufpläne, Stücklisten und Prüfpläne (Routineprüfungen).

    • Meister:

      • Organisiert den Fertigungsablauf, überwacht Verdrahtung, Beschriftung, mechanische Bearbeitung und Qualitätssicherung.

      • Führt Routineprüfungen durch (z. B. Hochspannungsprüfung/Isolationsprüfung gemäß 61439, Schutzleiter- und Funktionsprüfungen) und erstellt Werksprüfprotokolle.

      • Koordiniert Versand, Montage vor Ort, Anschluss und Inbetriebnahme.

      • Ergebnis: Eine Schaltanlage mit vollständiger Design- und Routineverifikation, auditfest dokumentiert – auch bei projektspezifischem Schaltschrankbau im gesamten DACH-Raum.

  • EMSR-Montagen in Prozessanlagen

    • Ingenieur:

      • Legt Messstellen, Signalwege und I/O-Strukturen fest, wählt Geräte unter Berücksichtigung von Schutzarten (IP, Ex) und Umgebungsbedingungen.

      • Plant Kabeltrassen, Trennungsabstände, Schirmkonzepte, Erdung, Potentialausgleich und EMV.

    • Meister:

      • Setzt Trassenbau, Feldgeräte-Montage, Klemmarbeiten und Loop-Checks um, koordiniert mit mechanischen Gewerken und Leittechnik.

      • Sorgt für saubere, normgerechte Kennzeichnung, Dichtigkeit und die Einhaltung von Mindestbiegeradien, Zugentlastungen und Dichtkonzepten.

      • Ergebnis: Revisionssichere EMSR-Installationen mit belegten Loop-Tests und freigegebenen Signalwegen – besonders kritisch in Ex-Bereichen.

  • DGUV Vorschrift 3: Prüfungen mit System

    • Ingenieur:

      • Entwickelt risikobasierte Prüfkonzepte, definiert Prüfumfang und -intervalle und berücksichtigt Betreiberanforderungen sowie TRBS 1203.

      • Legt Messverfahren fest (z. B. Schutzleiterwiderstand, Isolationswiderstand, RCD-Auslösezeiten, Schleifenimpedanz) und definiert Grenzwerte und Stichprobenlogik.

    • Meister:

      • Organisiert die Durchführung im Betrieb, priorisiert Anlagenverfügbarkeit, führt Prüfungen durch (oder koordiniert befähigte Personen) und bewertet Ergebnisse.

      • Etabliert ein Fristenmanagement, erstellt lückenlose Prüfprotokolle und aktualisiert die Anlagendokumentation (inkl. Mängelverfolgung und Wiedervorlage).

      • Ergebnis: Rechtssichere Prüfprozesse, die Audits bestehen, ohne den Betrieb unnötig zu stören.

  • Blitzschutz nach DIN EN 62305

    • Ingenieur:

      • Erstellt Risikoanalysen, legt die Blitzschutzklasse fest und definiert äußere (Fangstangen, Ableitungen, Erdung) und innere Maßnahmen (SPD-Konzept, Schutz-Potentialausgleich).

      • Berechnet Trennungsabstände und wählt Komponenten passend zum Gebäude- und Anlagenlayout – inkl. Zonen- und EMV-Konzept.

    • Meister:

      • Realisiert Erdungsanlagen, Fang- und Ableitsysteme, montiert SPDs, dokumentiert Verbindungen und Übergangswiderstände und führt Sicht- und Messprüfungen durch.

      • Ergebnis: Ein abgestimmtes, durchgängig dokumentiertes Blitz- und Überspannungsschutzsystem, das Risiko reduziert und Anlagenverfügbarkeit erhöht.

Diese Beispiele zeigen: Ohne belastbare Berechnungen, Nachweise und Spezifikationen fehlt die Grundlage für Compliance. Ohne fachgerechte Montage, Messung und Abnahme bleibt das Konzept Theorie. Erst das Zusammenspiel liefert ein audit- und behördentaugliches Ergebnis – von Bonn bis Krefeld ebenso wie in komplexen Anlagen im gesamten deutschsprachigen Raum.

Zusammenarbeit, Verantwortlichkeiten und Karrierepfade – und warum beides unverzichtbar ist

  • Zusammenarbeit und Verantwortlichkeiten:

    • Frühe Einbindung: Wenn Ingenieur und Meister bereits in der Basic Engineering-Phase zusammenarbeiten, werden Montagefreundlichkeit, Ersatzteilstrategie und Prüfkonzepte von Anfang an berücksichtigt.

    • Qualitätssicherung: Vier-Augen-Prinzip bei Nachweisen und Messungen, Checklisten nach Norm, Freigabepunkte je Bauabschnitt, klare Dokumentationslenkung (As-built vs. As-designed).

    • Arbeitssicherheit: Einheitliche Gefährdungsbeurteilungen, Ex-Freigaben, Permit-to-Work, Schulungen und Unterweisungen – abgestimmt mit der verantwortlichen Elektrofachkraft und den Betreiberprozessen.

    • Schnittstellenmanagement: Konsistente Daten von CAE bis Feld, eindeutige Kennzeichnungen, sauber gepflegte Stück- und Kabellisten, reibungslose Abnahmen bei Betreiber und – falls erforderlich – Behörden.

  • Karrierepfade in der Praxis:

    • Vom Gesellen zum Meister: Nach der dualen Berufsausbildung qualifiziert der Meistertitel für Bauleitung, Inbetriebnahmeverantwortung und Teamführung; zusätzliche Zertifikate (z. B. Schaltanlagenbau, Blitzschutz, Prüfen nach DGUV 3) erweitern das Spektrum.

    • Techniker und berufsbegleitendes Studium: Der Weg über den staatlich geprüften Techniker oder ein berufsbegleitendes Bachelorstudium verbindet Praxis- und Entwurfskompetenz – besonders wertvoll in EMSR- und Automatisierungsprojekten.

    • Ex-Bereiche: Zusatzqualifikationen nach DIN EN 60079 (z. B. Errichten/Prüfen in Ex-Zonen) sind für Chemie- und Raffinerieumgebungen essenziell – unabhängig vom Titel.

    • Quereinstieg: Mit nachweisbarer Normenkompetenz, projektspezifischen Schulungen und Mentorings sind auch Wechsel zwischen Entwurf, Ausführung und Qualitätssicherung möglich – ein Plus für robuste Projektteams.

  • Fazit für Betreiber und Projektverantwortliche:

    • Elektroingenieur und Elektromeister sind keine Konkurrenz, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Der Ingenieur liefert die rechnerisch und normativ saubere Grundlage, der Meister die sichere und termingerechte Umsetzung mit belastbaren Mess- und Abnahmeergebnissen.

    • Richtig besetzte, gut koordinierte Teams sind in Industrieprojekten unverzichtbar: Sie liefern Sicherheit, Compliance und Termin- sowie Kostentreue – in Bestandsanlagen wie im Neubau, im Schaltschrankbau ebenso wie bei EMSR-Montagen, DGUV-3-Prüfungen und Blitzschutz.

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Norm-Updates 2023/2024 richtig umsetzen: ISO 9001 und ISO 45001 für Elektrotechnik, EMSR und Ex-Bereiche am Niederrhein

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Ausbildung mit Zukunft: Elektronikerin Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik im industriellen Umfeld der Niederrheinschiene